→
Essay von Saakib Sait, aus dem Englischen übersetzt
Das Einzigartige des Frankfurter Bahnhofsviertels ist sein Zustand der ständigen Bewegung, ähnlich wie das Herz eines lebenden Organismus, das sich bei jedem Schlag ausdehnt und zusammenzieht. Doch dieser Puls manifestiert sich nur im Geiste. Die Architektur dieses Viertels trägt leider die Bürde der Beherbergung und beschränkt sich daher in Struktur, Ökonomie und Nutzen auf reine Geometrie. Sie ist zunehmend repetitiv und identisch und bestenfalls Gegenstand vereinfachter Ikonographie aus Grundformen wie Rechtecken, Quadraten und Kreisen. Aber unsere Erfahrung des Bahnhofsviertels übersetzt sich nie in ein makelloses System kategorisierter Gedanken, die dem säuberlich angelegten Raster folgen, das dieses Viertel gliedert.
Stattdessen manifestiert sich die Wahrnehmung des Viertels in einem der Montage vergleichbaren Bilderrausch - schnell, bewegt und kontinuierlich - der sich aus vielen verschiedenen Fragmenten und zeitlichen Perspektiven zusammensetzt. Das wahrgenommene Modell der Stadt ist daher konsequent nicht-reduktiv und lässt sich nicht mehr aus einem einzigen Blickwinkel beschreiben oder verstehen. Im Gegensatz zur idealen Geometrie, die die Architektur dieses Viertels definiert, negiert das wahrgenommene Modell geometrische Idealität und Kohärenz, was zu einem "multiplicitous body”1) (multiplen Körper) führt.
Das Wort 'Multiplizität' impliziert einfach einen Zustand des Vielfachen oder der Vielheit. Multiplizitäten sind nicht Teile eines größeren Ganzen oder Fragmente eines einheitlichen Priors. Sie entstammen nicht einem einzigen Konzept. Sie haben keine Hierarchie. Ein multipler Körper kann als ein Organismus verstanden werden, eine fluide Geometrie, die sich einer reduktiven Organisation widersetzt, was zu einer anorganischen Heterogenität führt. Er stellt assoziative Beziehungen her, die "...mögliche Verbindungen ausnutzen, die durch Wechselfälle entstehen. Sie können nicht von den globalen Organisationssystemen vorhergesagt werden, die in jedem einzelnen, einheitlichen Organismus vorhanden sind."2)
Um die Vielschichtigkeit des Bahnhofsviertels zu untersuchen, wird das dichte Netzwerk, das das Viertel bildet, als eine Assemblage aus verschiedenen wiederkehrenden Formen, Körpern, Artefakten und Organisationssystemen verstanden. Ein solches wiederkehrendes Artefakt, das das Viertel bevölkert, ist der Mülleimer, der im Abstand von wenigen Metern zueinander steht. Die schiere Anzahl an Mülleimern ist eine Folge der Menge an Schmutz, die täglich auf den Straßen liegt.
Schon vor der Pandemie war das Bahnhofsviertel für seinen Schmutz berüchtigt. Berichte im Sommer 2020 legten nahe, dass die Pandemie das "schmutzige" Problem des Bahnhofsviertels verschärft hat, anstatt es zu verringern. Die Straßen werden zweimal täglich grundgereinigt, der Müll wird dreimal abgeholt und trotzdem bleibt das Problem bestehen. Die Allgegenwart des Schmutzes löst ihn in ein Register auf, in dem er als Kulisse für die Aktivitäten im Quartier fungiert. In seiner Fülle operiert der Schmutz in einem Zustand, in dem die Figur mit dem Boden verschmilzt.
Die Erzeuger des Schmutzes lassen sich in allen Bereichen, Schichten und Segmenten der Gesellschaft hinweg aufspüren. Deren Vielfalt wird durch die Vielfalt des Schmutzes sichtbar: Plastikmüll (Masken, Verpackungen, Einwegartikel), Papier (Pizzakartons, Zeitungen, Rechnungen, Fahrkarten), Lebensmittelabfälle, Glasflaschen (meist in tausend Scherben zerbrochen), alte Möbel (Stühle, Betten, Schränke und billige IKEA-Spiegel), Spritzen, Zigarettenstummel und Exkremente (Tiere und Menschen), um nur einige zu nennen. Es gibt keine Möglichkeit, die Quelle auszumachen. Schmutz entsteht, wie Hélène Frichot in Dirty Theory schreibt, "unter den Füßen, unter den Fingernägeln, aus Begegnungen und Beziehungen und aus dem angesammelten Unrat, aus dem sich jede Lebensweise zusammensetzt."3)
Ein direkt gegenüber dem Hauptbahnhof in der Kaiserstraße aufgestellter Mülleimer mit seiner einfachen zylindrischen Geometrie bildet die Genese der Skulptur. Durch die Technik der Photogrammetrie wird der Mülleimer dreidimensional gescannt und in eine "Punktwolke" umgewandelt. Eine Punktwolke ist eine digitale Darstellung, die aus Pixelinformationen einschließlich Farbe und Raumkoordinaten in 3 Dimensionen besteht. Um die Punktwolke des Mülleimers zu erhalten, muss man sich mit einer Tiefenwahrnehmungskamera um den Mülleimer herum bewegen und dabei alle Seiten und Instanzen des Objekts erfassen - daher wird der Prozess als "3D-Scannen" bezeichnet.
Nach dem Verschieben der 3D-gescannten Punktwolke in den virtuellen Raum werden dann mehrere virtuelle Kameras um die Mülltonne herum positioniert. Außerdem werden die vielen Perspektiven der verschiedenen Kameras auf eine einzige Bildebene zusammengeführt, die als Eingabe in ein Virtual Reality (VR)-Headset eingespeist wird. Eine Clipping-Ebene wird an jeder der Kameras im virtuellen Raum in einem vorgegebenen Abstand zur Punktwolke angebracht. Wenn sich die Person, die das VR-Headset trägt, im physischen Raum bewegt, bewegen sich die Kameras (mit ihren angebrachten Clipping-Ebenen) im virtuellen Raum in Richtung der Bewegung der Person.
Wenn sich die Person auf den gescannten Mülleimer zubewegt, schneiden die Clipping-Ebenen im virtuellen Raum durch ihn hindurch. Ähnlich wie bei einem MRT-Scan des menschlichen Körpers offenbaren die Schnitte nachfolgende Tiefenschichten, die sich hinter der flachen Ansammlung von verpixelten Formen verbergen. Diese Enthüllung der Tiefe aktiviert den Raum als abstraktes Konzept im Kopf des Subjekts. Wenn es einen Raum gibt, der in etwas enthalten ist, hat er Grenzen, die ihn definieren. Es ist diese räumliche Begrenzung, die der Form der Skulptur Gestalt verleiht.
Die resultierende Form ist eine Menge von Punkten, die auf eine Weise im Raum verteilt sind, die mit traditioneller Geometrie nicht zu erreichen ist. Sie ist eine Darstellung einer Darstellung. Als architektonische Operation ist der traditionelle Prozess völlig umgekehrt - die Form kommt zuerst und die Zeichnungen für die Struktur müssen folgen. Gitter, Linien und ideale Geometrie werden innerhalb der Form platziert, um ihr Struktur und Halt zu geben.
Diese Erkundung resultiert aus einer Reihe von digitalen Prozessen, die Funktionen von Softwares, die für andere Zwecke gedacht sind, verwenden und nutzen. Was durch die verschiedenen Schritte konstant bleibt, ist ein Diskurs über die Arten des Sehens; ein Diskurs, in dem Ideen einer singulären Planarität (einzelner Horizont, Grund und Perspektive) außer Acht gelassen werden. Diese Befreiung von der linearen Perspektive gibt den Weg frei für neue Arten des Sehens und des räumlichen Verständnisses4) (auch wenn sie scheinbar verzerrt und chaotisch sind).
Dirty Matter ist eine Darstellung des Mülleimers - ein Objekt von monumentaler Bedeutung, die Ikone der Territorialisierung des Schmutzes. Die wiederkehrende Präsenz von Schmutz im Bahnhofsviertel ist eine Reflexion unserer Beziehung zueinander und zur Umwelt, die wir bewohnen. Obwohl Schmutz die mildernden Umstände enthüllt, die auf der Oberfläche des Viertels gedeihen, ist er auch "...das, was Grenzen überschreitet, den Anstand herausfordert, gegen die Normen verstößt."5)
Die Skulptur ist eine Vielzahl von Perspektiven, Gründen, Systemen und Horizonten, die einer Vielzahl von Geschichten, Kulturen und politischen Einstellungen Platz machen. Sie ist kein Versuch, Schmutz zu ästhetisieren. Stattdessen versucht sie, die Zerbrechlichkeit unserer Konzepte von Solidarität und Gemeinschaft aufzudecken, indem sie das "Othering" und die Unterdrückung der Unterprivilegierten, Machtlosen, Abgelehnten, Verachteten, Opfer und Ausgebeuteten offen legt. Sie fordert, dass andere Stimmen gehört werden.
Das Ziel von Dirty Matter ist es, Schmutz als Symptom einer größeren Krankheit aufzuzeigen - einer Krankheit, die nicht geheilt werden kann, ohne den ganzen Körper zu behandeln. Die Behandlung verlangt nicht nach einer Reinigung, einem Wegspülen oder nach einer Entsorgung des Unerwünschten. Stattdessen soll das Viertel von der Kontrolle und Autorität singulärer Ideen und Narrative befreit werden. Das Werk verlangt nach einer Förderung von Strukturen der Fürsorge, Instandhaltung und Sanierung, die die Beziehungen nicht nur zwischen den Mächtigen und den Benachteiligten, sondern auch mit der Umwelt, in der wir leben, verstärken.
1 — Der Begriff "multiplicitous body" stammt aus der Arbeit des Architekten Greg Lynn, der sich auf die von Gilles Deleuze und Felix Guattari vorgeschlagene Definition eines "Körpers ohne Organe" stützt.
2 — Lynn, G. (1992). Multiplicitous and Inorganic Bodies. Assemblage, (19), 32. doi:10.2307/3171175, Übersetzung des Autors.
3 — Frichot, H. (2019). Dirty theory: Troubling Architecture. Baunach, Germany: Spurbuchverlag, Übersetzung des Autors.
4 — Steyerl, H., & Berardi, F. (2012). In Free Fall: A Thought Experiment in Vertical Perspective. In Hito Steyerl: The Wretched of the Screen. Berlin, Germany: Sternberg Press.
5 — Frichot, ebd., Übersetzung des Autors.
Essay by Saakib Sait
The most unique aspect of Frankfurt’s Bahnhofsviertel is its state of constant motion, much like the heart of a living organism that expands and contracts with every beat. But this pulse manifests itself only in spirit. The architecture of this quarter unfortunately carries the burden of providing shelter and is therefore limited by structure, economy and utility to pure geometry. It is increasingly repetitive and identical and at best a case of simplified iconography made of basic shapes such as rectangles, squares and circles. But our experience of Bahnhofsviertel never translates into an immaculate system of categorized thoughts that follow the neatly laid out grid that divides this quarter.
Instead, our perception of this quarter manifests itself in a flash of imagery comparable to montage - fast, moving and continuous - composed of many different fragments and temporal perspectives. The perceived model of the city is, therefore, consistently non-reductive, ceasing to be described or understood from one single point of view. Unlike the ideal geometry that defines the architecture of this neighborhood, the perceived model negates geometric ideality and coherence resulting in a ‘multiplicitous body’1).
The word ‘multiplicity’ simply implies a state of being multiple or many. Multiplicities are not parts of a greater whole or fragments of a unified prior. They do not originate from a single concept. They have no hierarchy. A multiplicitous body can be understood as an organism, a fluid geometry that resists reductive organization resulting in an inorganic heterogeneity. They establish affiliative relations that “...exploit possible connections that occur through vicissitude. They cannot be predicted by the global systems of organization present in any single unified organism.”2)
In order to investigate the multiplicitous nature of Bahnhofsviertel, the dense network that forms the district is understood as an assemblage of various repeatable forms, bodies, artifacts and systems of organization. One such recurring artifact that populates the quarter is the trash can found every few feet apart from the other. The sheer number of trash cans is a result of the amount of dirt littered on the streets daily.
Notoriously known for its dirt even before the pandemic, reports in the summer of 2020 suggested that the pandemic has heightened the ‘dirty’ problem of Bahnhofsviertel instead of reducing it. The streets are deep-cleaned twice everyday, the garbage is picked up thrice and yet, the problem persists. The omnipresence of dirt dissolves it into a register where it functions as a backdrop to the activities in the quarter. In its abundance, dirt operates within a condition where the figure merges with the ground.
The contributors of dirt can be traced laterally across all fields, divides and segments of society. This diversity of benefactors is made visible with the diversity of dirt: plastic waste (masks, packaging, single-use items), paper (pizza boxes, newspapers, invoices, tickets), food waste, glass bottles (usually broken into a thousand shards), old furniture (chairs, beds, wardrobes and cheap IKEA mirrors), syringes, cigarette butts, and excrements (animal and human) to name a few. There is no way to single out the source. It emerges, as Hélène Frichot writes in Dirty Theory, “from beneath your feet, under your fingernails, from encounters and relations and from the accumulated odds and sods that compose any mode of life.”3)
A trash can installed right opposite the Hauptbahnhof on Kaiserstraße, with its simple cylindrical geometry, forms the genesis of the sculpture. Through the technique of photogrammetry, the trash can is 3D scanned and converted into a ‘point cloud’. A point cloud is a digital representation that consists of pixel information including colour and spatial coordinates in 3-dimensions. In order to obtain the pointcloud of the trash can, one has to move around it with a depth-perception camera, capturing all sides and instances of the object- hence the process is called ‘3D scanning’.
Moving the 3D scanned point cloud into virtual space, multiple virtual cameras are then positioned around the trash can. Further, the many perspectives from the various cameras are collapsed onto a single picture plane which is fed as input to a Virtual Reality (VR) headset. A clipping plane is attached to each of the cameras in virtual space at a predetermined distance from the point cloud. As the subject wearing the VR headset moves in physical space, the cameras (with their attached clipping planes) move in virtual space in the direction of the subject's movement.
When the subject moves toward the scanned trash can, the clipping planes cut through it in virtual space. Much like an MRI scan of the human body, the cuts reveal subsequent layers of depth hidden behind the flat assemblage of pixelated shapes. This revelation of depth activates space as an abstract concept in the mind of the subject. If there is space contained within something, it has boundaries that define it. It is this spatial boundary that gives shape to the form of the sculpture.
The resulting form is a set of points distributed in space in a manner incapable to achieve by traditional geometry. It is a representation of a representation. As an architectural operation, the traditional process is completely reversed- the form comes first and the drawings for structure are forced to follow. Grids, lines, and ideal geometry are placed within the form to give it structure and support.
This exploration results from a series of digital processes that use and exploit functions within softwares intended for other uses. What remains constant through the different steps is a discourse on the ways of seeing; a discourse in which ideas of a singular planarity (single horizon, ground and perspective) are disregarded. This liberation from linear perspective gives way to new modes of vision and spatial understanding4) (even if they are seemingly distorted and chaotic).
Dirty Matter is a representation of the trash can - an object of monumental significance as the icon of territorialising dirtiness. The recurring presence of dirt in Bahnhofsviertel is a reflection of our relationship towards each other and the environment we inhabit. Even though dirt unveils the extenuating circumstances that flourish on the surface of the quarter, it is also “...that which crosses boundaries, challenges decorum, contravenes norms.”5)
The sculpture is a multiplicity in perspectives, grounds, systems and horizons that give way to a multiplicity of histories, culture and politics. It is not an attempt to aestheticize dirtiness. Instead it attempts to expose the fragility of our concepts of solidarity and community by laying bare the ‘othering’ and the repression of the underprivileged, powerless, rejected, despised, victimised and exploited. It demands that other voices be heard.
The aim of Dirty Matter is to highlight dirt as a symptom of a greater sickness - one that cannot be cured without treating the entire body. The treatment does not call for a cleaning, washing out or deweeding of the unwanted. Instead it is a call for liberating the quarter from control and authority of singular ideas and narratives. It urges a propagation of systems of care, maintenance and repair that nurture profound relationships not only between the powerful and the vulnerable, but also with the environment we live in.
1 — The term ‘multiplicitous body’ comes from the work of architect Greg Lynn who relies on the definition of “a body without organs” as proposed by Gilles Deleuze and Felix Guattari.
2 — Lynn, G. (1992). Multiplicitous and Inorganic Bodies. Assemblage, (19), 32. doi:10.2307/3171175
3 — Frichot, H. (2019). Dirty theory: Troubling Architecture. Baunach, Germany: Spurbuchverlag.
4 — Steyerl, H., & Berardi, F. (2012). In Free Fall: A Thought Experiment in Vertical Perspective. In Hito Steyerl: The Wretched of the Screen. Berlin, Germany: Sternberg Press.
5 — Frichot, ibid.
Jaffna Basar
Kaiserstraße 49, DE-60329 Frankfurt
→ Google Maps
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Mo-Sa 9:00-00:00 Uhr / So: 14:00-22:00 Uhr
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Essay von Saakib Sait, aus dem Englischen übersetzt
Das Einzigartige des Frankfurter Bahnhofsviertels ist sein Zustand der ständigen Bewegung, ähnlich wie das Herz eines lebenden Organismus, das sich bei jedem Schlag ausdehnt und zusammenzieht. Doch dieser Puls manifestiert sich nur im Geiste. Die Architektur dieses Viertels trägt leider die Bürde der Beherbergung und beschränkt sich daher in Struktur, Ökonomie und Nutzen auf reine Geometrie. Sie ist zunehmend repetitiv und identisch und bestenfalls Gegenstand vereinfachter Ikonographie aus Grundformen wie Rechtecken, Quadraten und Kreisen. Aber unsere Erfahrung des Bahnhofsviertels übersetzt sich nie in ein makelloses System kategorisierter Gedanken, die dem säuberlich angelegten Raster folgen, das dieses Viertel gliedert.
Stattdessen manifestiert sich die Wahrnehmung des Viertels in einem der Montage vergleichbaren Bilderrausch - schnell, bewegt und kontinuierlich - der sich aus vielen verschiedenen Fragmenten und zeitlichen Perspektiven zusammensetzt. Das wahrgenommene Modell der Stadt ist daher konsequent nicht-reduktiv und lässt sich nicht mehr aus einem einzigen Blickwinkel beschreiben oder verstehen. Im Gegensatz zur idealen Geometrie, die die Architektur dieses Viertels definiert, negiert das wahrgenommene Modell geometrische Idealität und Kohärenz, was zu einem "multiplicitous body”1) (multiplen Körper) führt.
Das Wort 'Multiplizität' impliziert einfach einen Zustand des Vielfachen oder der Vielheit. Multiplizitäten sind nicht Teile eines größeren Ganzen oder Fragmente eines einheitlichen Priors. Sie entstammen nicht einem einzigen Konzept. Sie haben keine Hierarchie. Ein multipler Körper kann als ein Organismus verstanden werden, eine fluide Geometrie, die sich einer reduktiven Organisation widersetzt, was zu einer anorganischen Heterogenität führt. Er stellt assoziative Beziehungen her, die "...mögliche Verbindungen ausnutzen, die durch Wechselfälle entstehen. Sie können nicht von den globalen Organisationssystemen vorhergesagt werden, die in jedem einzelnen, einheitlichen Organismus vorhanden sind."2)
Um die Vielschichtigkeit des Bahnhofsviertels zu untersuchen, wird das dichte Netzwerk, das das Viertel bildet, als eine Assemblage aus verschiedenen wiederkehrenden Formen, Körpern, Artefakten und Organisationssystemen verstanden. Ein solches wiederkehrendes Artefakt, das das Viertel bevölkert, ist der Mülleimer, der im Abstand von wenigen Metern zueinander steht. Die schiere Anzahl an Mülleimern ist eine Folge der Menge an Schmutz, die täglich auf den Straßen liegt.
Schon vor der Pandemie war das Bahnhofsviertel für seinen Schmutz berüchtigt. Berichte im Sommer 2020 legten nahe, dass die Pandemie das "schmutzige" Problem des Bahnhofsviertels verschärft hat, anstatt es zu verringern. Die Straßen werden zweimal täglich grundgereinigt, der Müll wird dreimal abgeholt und trotzdem bleibt das Problem bestehen. Die Allgegenwart des Schmutzes löst ihn in ein Register auf, in dem er als Kulisse für die Aktivitäten im Quartier fungiert. In seiner Fülle operiert der Schmutz in einem Zustand, in dem die Figur mit dem Boden verschmilzt.
Die Erzeuger des Schmutzes lassen sich in allen Bereichen, Schichten und Segmenten der Gesellschaft hinweg aufspüren. Deren Vielfalt wird durch die Vielfalt des Schmutzes sichtbar: Plastikmüll (Masken, Verpackungen, Einwegartikel), Papier (Pizzakartons, Zeitungen, Rechnungen, Fahrkarten), Lebensmittelabfälle, Glasflaschen (meist in tausend Scherben zerbrochen), alte Möbel (Stühle, Betten, Schränke und billige IKEA-Spiegel), Spritzen, Zigarettenstummel und Exkremente (Tiere und Menschen), um nur einige zu nennen. Es gibt keine Möglichkeit, die Quelle auszumachen. Schmutz entsteht, wie Hélène Frichot in Dirty Theory schreibt, "unter den Füßen, unter den Fingernägeln, aus Begegnungen und Beziehungen und aus dem angesammelten Unrat, aus dem sich jede Lebensweise zusammensetzt."3)
Ein direkt gegenüber dem Hauptbahnhof in der Kaiserstraße aufgestellter Mülleimer mit seiner einfachen zylindrischen Geometrie bildet die Genese der Skulptur. Durch die Technik der Photogrammetrie wird der Mülleimer dreidimensional gescannt und in eine "Punktwolke" umgewandelt. Eine Punktwolke ist eine digitale Darstellung, die aus Pixelinformationen einschließlich Farbe und Raumkoordinaten in 3 Dimensionen besteht. Um die Punktwolke des Mülleimers zu erhalten, muss man sich mit einer Tiefenwahrnehmungskamera um den Mülleimer herum bewegen und dabei alle Seiten und Instanzen des Objekts erfassen - daher wird der Prozess als "3D-Scannen" bezeichnet.
Nach dem Verschieben der 3D-gescannten Punktwolke in den virtuellen Raum werden dann mehrere virtuelle Kameras um die Mülltonne herum positioniert. Außerdem werden die vielen Perspektiven der verschiedenen Kameras auf eine einzige Bildebene zusammengeführt, die als Eingabe in ein Virtual Reality (VR)-Headset eingespeist wird. Eine Clipping-Ebene wird an jeder der Kameras im virtuellen Raum in einem vorgegebenen Abstand zur Punktwolke angebracht. Wenn sich die Person, die das VR-Headset trägt, im physischen Raum bewegt, bewegen sich die Kameras (mit ihren angebrachten Clipping-Ebenen) im virtuellen Raum in Richtung der Bewegung der Person.
Wenn sich die Person auf den gescannten Mülleimer zubewegt, schneiden die Clipping-Ebenen im virtuellen Raum durch ihn hindurch. Ähnlich wie bei einem MRT-Scan des menschlichen Körpers offenbaren die Schnitte nachfolgende Tiefenschichten, die sich hinter der flachen Ansammlung von verpixelten Formen verbergen. Diese Enthüllung der Tiefe aktiviert den Raum als abstraktes Konzept im Kopf des Subjekts. Wenn es einen Raum gibt, der in etwas enthalten ist, hat er Grenzen, die ihn definieren. Es ist diese räumliche Begrenzung, die der Form der Skulptur Gestalt verleiht.
Die resultierende Form ist eine Menge von Punkten, die auf eine Weise im Raum verteilt sind, die mit traditioneller Geometrie nicht zu erreichen ist. Sie ist eine Darstellung einer Darstellung. Als architektonische Operation ist der traditionelle Prozess völlig umgekehrt - die Form kommt zuerst und die Zeichnungen für die Struktur müssen folgen. Gitter, Linien und ideale Geometrie werden innerhalb der Form platziert, um ihr Struktur und Halt zu geben.
Diese Erkundung resultiert aus einer Reihe von digitalen Prozessen, die Funktionen von Softwares, die für andere Zwecke gedacht sind, verwenden und nutzen. Was durch die verschiedenen Schritte konstant bleibt, ist ein Diskurs über die Arten des Sehens; ein Diskurs, in dem Ideen einer singulären Planarität (einzelner Horizont, Grund und Perspektive) außer Acht gelassen werden. Diese Befreiung von der linearen Perspektive gibt den Weg frei für neue Arten des Sehens und des räumlichen Verständnisses4) (auch wenn sie scheinbar verzerrt und chaotisch sind).
Dirty Matter ist eine Darstellung des Mülleimers - ein Objekt von monumentaler Bedeutung, die Ikone der Territorialisierung des Schmutzes. Die wiederkehrende Präsenz von Schmutz im Bahnhofsviertel ist eine Reflexion unserer Beziehung zueinander und zur Umwelt, die wir bewohnen. Obwohl Schmutz die mildernden Umstände enthüllt, die auf der Oberfläche des Viertels gedeihen, ist er auch "...das, was Grenzen überschreitet, den Anstand herausfordert, gegen die Normen verstößt."5)
Die Skulptur ist eine Vielzahl von Perspektiven, Gründen, Systemen und Horizonten, die einer Vielzahl von Geschichten, Kulturen und politischen Einstellungen Platz machen. Sie ist kein Versuch, Schmutz zu ästhetisieren. Stattdessen versucht sie, die Zerbrechlichkeit unserer Konzepte von Solidarität und Gemeinschaft aufzudecken, indem sie das "Othering" und die Unterdrückung der Unterprivilegierten, Machtlosen, Abgelehnten, Verachteten, Opfer und Ausgebeuteten offen legt. Sie fordert, dass andere Stimmen gehört werden.
Das Ziel von Dirty Matter ist es, Schmutz als Symptom einer größeren Krankheit aufzuzeigen - einer Krankheit, die nicht geheilt werden kann, ohne den ganzen Körper zu behandeln. Die Behandlung verlangt nicht nach einer Reinigung, einem Wegspülen oder nach einer Entsorgung des Unerwünschten. Stattdessen soll das Viertel von der Kontrolle und Autorität singulärer Ideen und Narrative befreit werden. Das Werk verlangt nach einer Förderung von Strukturen der Fürsorge, Instandhaltung und Sanierung, die die Beziehungen nicht nur zwischen den Mächtigen und den Benachteiligten, sondern auch mit der Umwelt, in der wir leben, verstärken.
1 — Der Begriff "multiplicitous body" stammt aus der Arbeit des Architekten Greg Lynn, der sich auf die von Gilles Deleuze und Felix Guattari vorgeschlagene Definition eines "Körpers ohne Organe" stützt.
2 — Lynn, G. (1992). Multiplicitous and Inorganic Bodies. Assemblage, (19), 32. doi:10.2307/3171175, Übersetzung des Autors.
3 — Frichot, H. (2019). Dirty theory: Troubling Architecture. Baunach, Germany: Spurbuchverlag, Übersetzung des Autors.
4 — Steyerl, H., & Berardi, F. (2012). In Free Fall: A Thought Experiment in Vertical Perspective. In Hito Steyerl: The Wretched of the Screen. Berlin, Germany: Sternberg Press.
5 — Frichot, ebd., Übersetzung des Autors.
Essay by Saakib Sait
The most unique aspect of Frankfurt’s Bahnhofsviertel is its state of constant motion, much like the heart of a living organism that expands and contracts with every beat. But this pulse manifests itself only in spirit. The architecture of this quarter unfortunately carries the burden of providing shelter and is therefore limited by structure, economy and utility to pure geometry. It is increasingly repetitive and identical and at best a case of simplified iconography made of basic shapes such as rectangles, squares and circles. But our experience of Bahnhofsviertel never translates into an immaculate system of categorized thoughts that follow the neatly laid out grid that divides this quarter.
Instead, our perception of this quarter manifests itself in a flash of imagery comparable to montage - fast, moving and continuous - composed of many different fragments and temporal perspectives. The perceived model of the city is, therefore, consistently non-reductive, ceasing to be described or understood from one single point of view. Unlike the ideal geometry that defines the architecture of this neighborhood, the perceived model negates geometric ideality and coherence resulting in a ‘multiplicitous body’1).
The word ‘multiplicity’ simply implies a state of being multiple or many. Multiplicities are not parts of a greater whole or fragments of a unified prior. They do not originate from a single concept. They have no hierarchy. A multiplicitous body can be understood as an organism, a fluid geometry that resists reductive organization resulting in an inorganic heterogeneity. They establish affiliative relations that “...exploit possible connections that occur through vicissitude. They cannot be predicted by the global systems of organization present in any single unified organism.”2)
In order to investigate the multiplicitous nature of Bahnhofsviertel, the dense network that forms the district is understood as an assemblage of various repeatable forms, bodies, artifacts and systems of organization. One such recurring artifact that populates the quarter is the trash can found every few feet apart from the other. The sheer number of trash cans is a result of the amount of dirt littered on the streets daily.
Notoriously known for its dirt even before the pandemic, reports in the summer of 2020 suggested that the pandemic has heightened the ‘dirty’ problem of Bahnhofsviertel instead of reducing it. The streets are deep-cleaned twice everyday, the garbage is picked up thrice and yet, the problem persists. The omnipresence of dirt dissolves it into a register where it functions as a backdrop to the activities in the quarter. In its abundance, dirt operates within a condition where the figure merges with the ground.
The contributors of dirt can be traced laterally across all fields, divides and segments of society. This diversity of benefactors is made visible with the diversity of dirt: plastic waste (masks, packaging, single-use items), paper (pizza boxes, newspapers, invoices, tickets), food waste, glass bottles (usually broken into a thousand shards), old furniture (chairs, beds, wardrobes and cheap IKEA mirrors), syringes, cigarette butts, and excrements (animal and human) to name a few. There is no way to single out the source. It emerges, as Hélène Frichot writes in Dirty Theory, “from beneath your feet, under your fingernails, from encounters and relations and from the accumulated odds and sods that compose any mode of life.”3)
A trash can installed right opposite the Hauptbahnhof on Kaiserstraße, with its simple cylindrical geometry, forms the genesis of the sculpture. Through the technique of photogrammetry, the trash can is 3D scanned and converted into a ‘point cloud’. A point cloud is a digital representation that consists of pixel information including colour and spatial coordinates in 3-dimensions. In order to obtain the pointcloud of the trash can, one has to move around it with a depth-perception camera, capturing all sides and instances of the object- hence the process is called ‘3D scanning’.
Moving the 3D scanned point cloud into virtual space, multiple virtual cameras are then positioned around the trash can. Further, the many perspectives from the various cameras are collapsed onto a single picture plane which is fed as input to a Virtual Reality (VR) headset. A clipping plane is attached to each of the cameras in virtual space at a predetermined distance from the point cloud. As the subject wearing the VR headset moves in physical space, the cameras (with their attached clipping planes) move in virtual space in the direction of the subject's movement.
When the subject moves toward the scanned trash can, the clipping planes cut through it in virtual space. Much like an MRI scan of the human body, the cuts reveal subsequent layers of depth hidden behind the flat assemblage of pixelated shapes. This revelation of depth activates space as an abstract concept in the mind of the subject. If there is space contained within something, it has boundaries that define it. It is this spatial boundary that gives shape to the form of the sculpture.
The resulting form is a set of points distributed in space in a manner incapable to achieve by traditional geometry. It is a representation of a representation. As an architectural operation, the traditional process is completely reversed- the form comes first and the drawings for structure are forced to follow. Grids, lines, and ideal geometry are placed within the form to give it structure and support.
This exploration results from a series of digital processes that use and exploit functions within softwares intended for other uses. What remains constant through the different steps is a discourse on the ways of seeing; a discourse in which ideas of a singular planarity (single horizon, ground and perspective) are disregarded. This liberation from linear perspective gives way to new modes of vision and spatial understanding4) (even if they are seemingly distorted and chaotic).
Dirty Matter is a representation of the trash can - an object of monumental significance as the icon of territorialising dirtiness. The recurring presence of dirt in Bahnhofsviertel is a reflection of our relationship towards each other and the environment we inhabit. Even though dirt unveils the extenuating circumstances that flourish on the surface of the quarter, it is also “...that which crosses boundaries, challenges decorum, contravenes norms.”5)
The sculpture is a multiplicity in perspectives, grounds, systems and horizons that give way to a multiplicity of histories, culture and politics. It is not an attempt to aestheticize dirtiness. Instead it attempts to expose the fragility of our concepts of solidarity and community by laying bare the ‘othering’ and the repression of the underprivileged, powerless, rejected, despised, victimised and exploited. It demands that other voices be heard.
The aim of Dirty Matter is to highlight dirt as a symptom of a greater sickness - one that cannot be cured without treating the entire body. The treatment does not call for a cleaning, washing out or deweeding of the unwanted. Instead it is a call for liberating the quarter from control and authority of singular ideas and narratives. It urges a propagation of systems of care, maintenance and repair that nurture profound relationships not only between the powerful and the vulnerable, but also with the environment we live in.
1 — The term ‘multiplicitous body’ comes from the work of architect Greg Lynn who relies on the definition of “a body without organs” as proposed by Gilles Deleuze and Felix Guattari.
2 — Lynn, G. (1992). Multiplicitous and Inorganic Bodies. Assemblage, (19), 32. doi:10.2307/3171175
3 — Frichot, H. (2019). Dirty theory: Troubling Architecture. Baunach, Germany: Spurbuchverlag.
4 — Steyerl, H., & Berardi, F. (2012). In Free Fall: A Thought Experiment in Vertical Perspective. In Hito Steyerl: The Wretched of the Screen. Berlin, Germany: Sternberg Press.
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